Montag, 10. Dezember 2012

Paradies: Liebe von Ulrich Seidl



Um einige Zeilen zu einem Film zu schreiben, der einen in Sprachlosigkeit zurücklässt: 


Seidl macht Event-Kino. Jedes Bild ist ein neues Ereignis mit der Frage: „Wie weit kann man gehen?“ 


Schon in seinen ersten Bildern offenbart sich häufig die Essenz seiner Filme. Immer wieder sind es wartende Menschen, frontal zur Kamera gerichtet. Sie offenbaren sich in einer Art und Weise, dass man sich gleichzeitig peinlich ertappt fühlt und sich nicht mehr distanzieren kann, dass man Mitleid spürt und Ekel, und niemals weiß, ob man wirklich lachen soll und darf, aber es einfach tun muss. „Paradies: Liebe“ beginnt mit dem Bild einer Gruppe von Menschen mit Down-Syndrom, die in Autoskootern sitzen und auf das Startsignal warten. Keiner regt sich. Das Startkommando wird nach einiger Zeit von Teresa, der ca. 50jährigen Protagonistin gegeben. Sie wird ihre Tochter bei ihrer Schwester lassen und nach Kenia fliegen, um sich dort im Urlaub den zweifelhaften Genüssen des Sextourismus hinzugeben. Auch in Kenia liegen die Touristen wie starre Leichen in ihren Sonnenliegen, Einheimische sind wie zu Eis gefroren in ihren Blicken auf ein Fernsehgerät. Seidl stellt keine lebendige Gesellschaft dar, er präsentiert einen allgemeingültigen Prozess, in dem der Blick erstarrt ist und nicht auf den Kern der Sache gerichtet scheint. Weiße (häufig ältere) Frauen fahren nach Schwarzafrika und lassen sich auf Abenteuer mit Kenianern ein, die früher oder später damit beginnen nach Geld zu fragen. Das ganze wird in einer Perversität gezeigt, die durchgehend mit rassistischen Motiven flirtet und die traurige Animalität des Menschseins offenbart, die Reduzierung auf einfache Bedürfnisse. Die Beobachtung von Seidl beschränkt sich allerdings in ihrer Präzision nicht wie bei seinem Landsmann Michael Haneke auf die Pausen, Setzungen, Tonlagen und Wörter, (und alle Momente, in denen diese Dinge nicht vorkommen) sondern auch auf zunächst unmenschlich erscheinende Reaktionen, wie das schrille Lachen über sich selbst und andere. Lachen, das man nur lustig finden kann, wenn es einem selbst gehört. Dennoch muss man auch als Zuseher unweigerlich lachen. Über die Grausamkeit des Schamlosen im gleichen Maße wie über die Offenlegung von Wahrheiten, die man selbst so kennt. (ob man will oder nicht.) Es entsteht ein Kino der abartigen Attraktionen, des Unfassbaren, man erwischt sich beim Warten auf die nächste Unheimlichkeit, das nächste Tabu, dass von Seidl in großer Offenheit angesprochen wird. 



Seine statischen, grotesken Einstellungen sind nur schwerlich als neutral zu verstehen. Die psychologischen Grausamkeiten des Menschen, die sein (oberflächlich betrachtet) menschenverachtender Seelenverwandter Lars von Trier in seinen Filmen größtenteils erforscht, praktiziert Seidl in den physischen Grobheiten der Körper. Damit ist „Paradies: Liebe“ mehr „Idioten“, als „Dogville“. Es ist absolut beeindruckend mit welcher Authentizität und Bereitwilligkeit die Schauspielerinnen Sex und körperliche Fehler ausstellen; und „Ausstellen“ ist hier tatsächlich der richtige Begriff, denn auch der Umgang der Frauen mit ihren kenianischen Liebhabern mutet dem eines Umgangs mit Haustieren an oder eben Affen, die auf dem Balkon des Hotels gefüttert werden möchten. Da muss man schon schwer schlucken. Umso interessanter die Selbstironie, die den Charakteren beiwohnt; sie machen sich über ihr eigenes Aussehen lustig. In dieser Selbstdegradierung liegt gleichzeitig ihr Selbstschutz, denn eine Reflektion ihres Verhaltens ist himmelweit entfernt. Im Liebesparadies herrscht eine europäische Fun-Society, die humoristischen Rassismus betreibt, der in absurden Spielen der Lust eine Art rundum Wellness-Trip verspricht. In einer Sequenz versuchen Teresa und ihre drei österreichischen Freundinnen den Penis eines kenianischen Mannes zum Stehen zu bringen: „Wer es als Erste schafft, hat gewonnen.“ Bei Seidl sind Ekel und Lachen zwei Seiten der gleichen Medaille.


Ist so das Paradies? Zumindest funktioniert die Illusion einige Tage bei Teresa. Doch der weite Blick aufs blaue Meer, das Gefühl von Begierde und der Reiz des Abenteuers versinken schnell in den immer gleichen Formen einer sich verfestigenden Sucht und dem langsamen Bemerken, dass dieses Gefühl des „Begehrt Werdens“ alles ist, was einen von der eigenen Einsamkeit und Fremdheit ablenkt. Das Paradies, als ein Traumbild kolonialistischen Denkens, das sich anders, als in Miguel Gomes' "Tabu" nicht in nostalgischen Bildern kritisch romantisieren lässt, sondern in der bodenlosen Echtheit des gegenwärtigen Lebens ihren Ausdruck findet.



Seidl hat das Paradies noch weiter erforscht. Bald startet „Paradies: Glaube“ regulär in die deutschsprachigen Kinos und auf der Berlinale wird dann „Paradies: Hoffnung“ zu sehen sein.  

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen